Mit dem 1962 in Paris veröffentlichten Buch Nietzsche et la philosophie von Gilles Deleuze beginnt ein neuer Abschnitt der – nicht nur französischen – Rezeptionsgeschichte der Schriften Nietzsches. Haben bis dahin, grob gesagt, die „metaphysischen“ Lesarten dominiert, so rückt nun eine radikal metaphysikkritische, d. h. immanenz- und differenzgetestete Spielart der Nietzsche-Interpretation in den Vordergrund. Für diese Verschiebung der Perspektive steht exemplarisch die Durchstreichung des majestätischen Singular eines einzigen und universalen Willens zur Macht zugunsten einer Pluralität von Willen-zur-Macht-Prozessen. Gegen die zumeist entweder über Schopenhauer vermittelten oder von Heidegger (zeitweilig auch von Bäumler) inspirierten metaphysischen Deutungen des Willens zur Macht als fundamentales Prinzip der Spätphilosophie Nietzsches tritt somit in Frankreich ein „nachmetaphysisches“ Denken auf, das in seinen häufig als „strukturalistisch“ und „poststrukturalistisch“ bezeichneten Bemühungen um eine Position diesseits des Subjekts in Nietzsche ihre privilegierte Bezugsperson findet. In diesem Zusammenhang erklärt sich, warum Deleuze mit seinem Nietzsche-Buch ein so breites Echo hervorrufen konnte. Er liefert der strukturalistischen „Bewegung“ mit Nietzsche einen dezidiert philosophischen Halt. Hinzu kommt, dass er mit seiner Nietzsche-Auslegung eine kompromisslose Gegenposition gegen den philosophischen Traditionalismus entwickelt, die noch über Heideggers Ansatz zu einer Destruktion der Metaphysik-Überlieferung hinausgeht. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Deleuze mit seinem Nietzsche- Buch nicht nur für die Nietzsche-Rezeption einerseits und die Konsolidierung „strukturalistischer Methoden“ innerhalb der Philosophie andererseits Entscheidendes geleistet hat, sondern zudem seine eigene Form des Philosophierens erst anhand seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche erarbeitet.